Weit wie das Meer

Jugend forscht - Das Magazin | 2002/2003

WYRE-Forschungscamp 2001

September 2001 - eine steife Brise trug die kühle Seeluft bis weit ins Landesinnere hinein. Möwen kreisten laut schreiend über dem Wasser. Nancy Cardinez fröstelte, verharrte jedoch gebannt vor der eindrucksvollen Silhouette, die sich keinen Steinwurf von ihr entfernt aus dem grauen Meer erhob. Die Schülerin blickte angestrengt gegen das Licht der aufgehenden Sonne. Vor ihr lag Atlantis. Mächtig, groß und unübersehbar - Atlantis.

Atlantis befindet sich an der Ostküste der Vereinigten Staaten und hat mit dem sagenumwobenen Königreich aus Platons Schriften ebenso wenig gemein wie eine Nordseekrabbe mit einem Königstiger. Dieses Atlantis ist 83 Meter lang, 15 Meter breit, hat ein Gesamtvolumen von 3200 Bruttoregistertonnen und misst einen Tiefgang von fünf Metern. Als eines der modernsten Forschungsschiffe der U.S.A. steht R/V Atlantis im Dienst des privaten Meereskundeinstituts Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI).

Dass sich Nancy Cardinez an diesem kühlen Herbstmorgen an der Südwestspitze von Cape Cod in Massachussets befand, verdankte sie ihrem wissenschaftlichen Interesse. Ursprünglich stammt die 17-Jährige aus dem warmen Trinidad/Tobago in der Karibik. Als eine von sieben Nachwuchswissenschaftlern durfte sie jedoch vom 10. bis 21. September 2001 am Forschungscamp des internationalen Wettbewerbs Worldwide Young Researchers for the Environment (WYRE) teilnehmen. WYRE - eine gemeinsame Initiative der Stiftung Jugend forscht e.V. und der Deutschen Bank AG - bildete den krönenden Abschluss des europäischen Wettbewerbs Young Europeans Environmental Research (YEER). Im Rahmen der EXPO 2000 hatten sich in Hannover 143 Nachwuchsforscher aus 73 Nationen getroffen und ihre wissenschaftlichen Arbeiten dem internationalen Publikum der Weltausstellung präsentiert. Sieben der Teilnehmer gelang dabei der Sprung auf das Siegertreppchen von WYRE - darunter Roxane Andersen (Kanada), Peter Adamik und Juraj Vojtek (Slowakei), Graham Neil Hains und Murray Crous (Südafrika) sowie schließlich Maurice Oudith und Nancy Cardinez (Trinidad/Tobago).

Nancys Siegerprojekt, mit dem sie sich zusammen mit ihrem jungen Kollegen Maurice (17) auf der EXPO behaupten konnte, beschäftigt sich mit dem Recycling von Kokosnüssen. In Nancys Heimat, der Karibik, wird vor allem die Kokosnussmilch kommerziell genutzt. Was zurück bleibt, sind die Kokosnussschalen, die als organischer Abfall auf den Inseln entsorgt werden. Nancy Cardinez und Maurice Oudith hatten die Idee, die Fasern der Kokosnussschalen aufzubereiten und wiederzuverwerten. Dazu konstruierten sie eine spezielle Fasermühle, die das Pflanzenmaterial zerkleinert. Aus dem so aufbereiteten Rohstoff lassen sich die unterschiedlichsten Produkte herstellen: vom Isolier- bzw. Dämmstoff über Festigungsmaterial beim Bau bis hin zum Tierfutter.

Kokosnüsse waren beim Forschungsaufenthalt der Schüler in den U.S.A. kein Thema. Das WYRE-Camp in Woods Hole - etwa 120 Kilometer südlich von Boston - stand ganz unter dem Zeichen der angewandten Meeres- und Klimaforschung an der WHOI. Die WHOI zählt international zu den renommiertesten Meeresforschungseinrichtungen. Elf Tage lang durften die sieben Nachwuchsforscher an verschiedenen wissenschaftlichen Projekten mitarbeiten. Unter der Leitung von Dr. John W. Farrington, dem Dekan und stellvertretenden Direktor für Lehre und Forschung, lernten sie den Arbeitsalltag der Meeresforscher kennen. Vorlesungen, Seminare und Feldarbeiten füllten die abwechslungsreichen Tage auf Cape Cod. Eines der Forschungscamp-Projekte beschäftigte sich mit der Aquakultur von Muscheln, insbesondere Venusmuscheln. Ihre kommerzielle Nutzung hat auf Cape Cod eine große Bedeutung. Sie trägt mit Einnahmen von jährlich 5 - 15 Mio. U.S.-Dollar wesentlich zur Wirtschaftskraft der Region bei. Doch Aquakultur - die marine Form der Landwirtschaft - ist nicht unproblematisch. Überall dort, wo der Mensch einzelne Pflanzen- oder Tierarten kultiviert, besteht die Gefahr, das dies auf Kosten der regionalen Artenvielfalt passiert und die Umwelt darunter leidet. So untersuchten die Jungforscher verschiedene Muschelfarmen in der Gezeitenzone auf ihren Einfluss auf das Ökosystem Küste. Sie bestimmten Biomasse und Artenvielfalt der Tierwelt und verglichen sie mit den Daten unbewirtschafteter Küstenabschnitte.

Als Alternative zu küstennahen Muschelfarmen versuchen Meeresbiologen der WHOI, Muscheln auch auf offener See zu züchten. Dafür hängen sie - 20 Kilometer vor der Küste - zahlreiche Langleinen mit Auftriebsbojen ins freie Wasser. Über die Meeresströmung gelangen Muschellarven und Nährstoffe zu den Leinen. Die Larven setzen sich fest und beginnen - ständig gut genährt - ihr Wachstum im offenen Meer. Vorteil dieser Aquakultur-Methode: Die eigentlich am Meeresboden lebenden Muscheln erreichen auf offener See schon in der Hälfte der ursprünglichen Zeit eine Größe, die sie kommerziell nutzbar macht. Zudem ist der Einfluss auf das umgebende Ökosystem im Vergleich zu den küstennahen Muschelfarmen weitaus geringer.

Das zweite Forschungsprojekt des WYRE-Camps beschäftigte sich mit dem Gasaustausch zwischen Atmosphäre und Ozean. Die Ozeane spielen eine wichtige Rolle im weltweiten Klimageschehen. In den oberen Wasserschichten lebende Algen (Phytoplankton) entziehen zum Aufbau der eigenen organischen Substanz dem umgebenen Wasser Kohlenstoff. Dadurch sinkt der Kohlendioxidgehalt ab. Der Verlust wird jedoch durch die Atmosphäre ausgeglichen, die freies Kohlendioxid an die Ozeane abgibt. Diesen Prozess bezeichnen Meeresbiologen und Klimaforscher als "biologische Pumpe". Stirbt das Plankton, sinkt es zum Meeresboden und der Kohlenstoff wird dem aktiven Kreislauf entzogen. Aus diesem Grund ist es wichtig, den Stofftransport im Ozean quantitativ und qualitativ bestimmen zu können. Die Untersuchungen dazu fanden im neuesten Labor der WHOI, dem Martha Vineyard Coastal Observatory, statt. Hier bearbeiteten die Schüler Boden- und Wasserproben, analysierten Datenmaterial und diskutierten mit den Wissenschaftlern die Zusammenhänge im weltweiten Klimageschehen.

Zu der Arbeit als Meeresbiologe auf Zeit gehörten auch spannende Einsätze auf den Forschungsschiffen der WHOI. Neben dem wissenschaftlichen Programm boten die Ausfahrten entlang der nordamerikanischen Atlantikküste unvergessliche Naturerlebnisse. Riesige Buckelwale zogen gemächlich ihre Bahnen auf der Suche nach Nahrung und begleiteten die Forscher über lange Strecken hinweg. Kleinere Grindwale bildeten Schulen von über hundert Tieren und durchstreiften die Weiten des Westatlantiks. Zahlreiche Delphinarten kreuzten den Weg der Forschungsschiffe. So manch steife Brise und hohe Welle verdeutlichten Nancy Cardinez und ihren jungen Kollegen aber auch, dass wissenschaftliche Arbeit auf einem schwankenden Untergrund so seine Tücken hat. Dem zeitweiligen Aufenthalt an der Schiffsreling kam deshalb eine nicht unwesentliche Bedeutung zu.

Den erfolgreichen Abschluss des WYRE-Forschungscamp 2001 bildete eine Präsentation, in der die sieben Teilnehmer ihre Ergebnisse der Presse und Öffentlichkeit vorstellten. Die Forschungsdaten des Nachwuchses flossen in die bestehenden Arbeiten der Meereskundler an der WHOI ein und bilden die Grundlage für weitergehende Untersuchungen. Neben einer Fülle an Eindrücken, zahlreichen neuen Erkenntnissen und neu geschlossenen Freundschaften nahmen die WYRE-Sieger noch etwas Besonderes mit in ihre Heimat: das Angebot John Farringtons, sich im Rahmen ihres Studiums jederzeit für Programme an der WHOI bewerben zu können. So hatte Nancy Cardinez, trotz der bevorstehenden Rückreise, auch ein Glänzen in den Augen, als sie an diesem kühlen Herbstmorgen einen letzten Blick auf Atlantis warf.

YEER und WYRE - zehn Jahre Partnerschaft Jugend forscht und Deutsche Bank

Hanns Michael Hölz (Global Head Public Affairs and Sustainable Development, Deutsche Bank AG) und Dr. Uta Krautkrämer-Wagner (Geschäftsführerin Stiftung Jugend forscht e.V.) betonten beim traditionellen Eröffnungskolloquium des Forschungscamps noch einmal die große Bedeutung der beiden internationalen Wettbewerbe. Der langjährige Erfolg der Initiativen YEER und WYRE ist insbesondere eine Bestätigung des Umweltengagements der Deutschen Bank. Um die Früchte dieses Erfolges nicht welken zu lassen, wurden die YEER- und WYRE-Alumni - ebenso wie die internationalen Partner der Wettbewerbe - in ein gemeinsames Netzwerk des Bellagio Forum for Sustainable Development (www.bfsd.org) integriert. Hanns Michael Hölz, zugleich Vorsitzender des Bellagio Forums, möchte damit auch für die Zukunft eine Möglichkeit zum Austausch zwischen Gleichgesinnten und Ehemaligen der Wettbewerbe bieten.

11. September 2001

Das WYRE-Forschungscamp wurde überschattet von den Ereignissen des 11. Septembers 2001 in New York. Die Organisatoren der Stiftung Jugend forscht e. V., der Deutschen Bank AG sowie der Woods Hole Oceanographic Institution entschieden sich trotzdem oder gerade deswegen, das internationale Camp wie geplant durchzuführen. An dieser Stelle sei insbesondere und stellvertretend für alle WHOI-Mitarbeiter Dr. John W. Farrington (Dekan der WHOI) und Kate Madin (amerikanische Projektkoordinatorin des Forschungscamps) für ihr außergewöhnliches Engagement gedankt. Besonderer Dank gilt auch Frau Claudia Hinrichs, die sich über zwei Jahre als deutsche Wettbewerbs- und Projektkoordinatorin für YEER und WYRE engagiert hat.


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