Warum „Jugend forscht“?

Jugend forscht auf einen Blick | 1976

Wer einmal ein Experiment durchführte, läßt sich kein X für ein U vormachen

Die Idee war aus der Not geboren worden. Weil es überall an Naturwissenschaftlern fehlte - in den Labors der Industrie, an den Universitäten oder in den staatlichen Forschungsstätten - wurde "Jugend forscht" ins Leben gerufen. Das Förderungswerk des "Stern" und der Industrie sollte junge Menschen dafür gewinnen, sich mit naturwissenschaftlicher Forschung zu beschäftigen, Gefallen daran zu finden und sie sich vielleicht zum Berufsziel zu machen. Heute sieht das anders aus. Der Numerus clausus versperrt vielen Abiturienten, die gerne studieren möchten, den Weg zur ersehnten Karriere. Und in der Industrie oder an den staatlichen Forschungsstellen hält das Angebot an Naturwissenschaftlern der Nachfrage durchaus die Waage.

Die Not, die der Geburtshelfer für "Jugend forscht" gewesen ist, herrscht nicht mehr. Warum also noch "Jugend forscht"?

Ich glaube, nie ist es so wichtig gewesen wie heute, sich auf einem Gebiet der Naturwissenschaften praktisch zu betätigen, und sei es nur aus Spaß, ohne jede Absicht, solches einmal zum Beruf zu machen. Denn unser Dasein wird in zunehmendem Maße von den Ergebnissen der Naturwissenschaften bestimmt, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Wir hantieren mit diesen Resultaten in Form unzähliger neuer Materialien, Kunststoffe zum Beispiel, wir kommen mit den Ergebnissen biochemischer Forschung beim Arzt, bei der Körperpflege und beim Essen in Berührung, die Erfolge der Halbleiterphysik sind in den modernen elektronischen Geräten technische Wirklichkeit geworden, im Transistorradio, im Computer, in den Steuergeräten der automatisierten Industrie. Längst haben wir erkannt, daß solche Segnungen auch ihre Schattenseiten haben. Die veruntreute Umwelt ist da nur eines vieler Beispiele. Was heute in gräßlichen Waffen für den Massenmord tickt, ist einmal unschuldige Physik gewesen. Und wer weiß, ob sich nicht morgen schon unser in den letzten Jahren so hoch entwickeltes theoretisches Wissen in der Biologie als praktische Nutzanwendung gegen uns richten wird?

Wissenschaft ist zu gefährlich, als daß wir sie noch nur den Wissenschaftlern überlassen dürften. Wir müssen mitreden können, wenn wissenschaftliche Projekte mit unserem Geld finanziert werden sollen, wenn Gesetze beraten werden, die Forschungsergebnisse und -methoden einbeziehen oder voraussetzen wie etwa bei einem Lebens- oder Arzneimittelgesetz oder bei Sicherheitsbestimmungen für Reaktor-Kraftwerke. Wir dürfen uns nicht verschaukeln lassen, beispielweise dann, wenn verursacht wird, etwa aus politischen Erwägungen oder Profitgründen wissenschaftliche Erkenntnisse in den Wind zu schlagen.

Selbstverständlich kann niemand überall in der Wissenschaft zu Hause sein. Aber die Erfahrung hat gelehrt, daß sich derjenige, der schon einmal praktisch naturwissenschaftlich tätig war, ganz gleich auf welchem Gebiet, verhältnismäßig leicht mit anderen Bereichen der Forschung so weit vertraut machen kann, daß er sich ein Urteil zu bilden vermag. Wer einmal selbst ein Forschungsproblem zu lösen versucht oder gar gelöst hat, läßt sich so leicht nicht mehr mit der Behauptung, etwas sei wissenschaftlich bewiesen, abspeisen, weil ihm die Problematik solcher Beweise klar geworden ist. Er fragt frech: "Wieso bewiesen, wie denn?" und bildet sich dann eine eigene Meinung.

In den Naturwissenschaften gilt nur als wahr, was sich im reproduzierbaren Experiment unter Ausschluß aller möglicherweise verfälschenden Einflußgrößen als richtig erwiesen hat. Naturwissenschaft also erzieht zu Skepsis, derer wir heute, da wir wegen der Fülle von Kommunikationsmöglichkeiten mehr denn je zuvor dem Einfluß von Scharlatanen ausgesetzt sind, besonders dringend bedürfen. Zu viele Leute, die ihrer Ideologie, ihrer Heilslehre oder den Anpreisungen ihrer Waren ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängen, sind darauf aus, uns irrezuführen und auszubeuten. "Jugend forscht" kann mithin als eine hohe Schule kritischen Bewußtseins angesehen werden, als eine Gelegenheit, sich auf das Leben in der technisierten Welt vorzubereiten. Und das scheint mir aller Mühen wert zu sein, auch der Ihrigen.

Dr. Thomas von Randow, Die Zeit


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