Lust am Lernen statt Frust in der Schule

Gerald Hüther | April 2013

Gerald Hüther ist einer der bekanntesten Neurobiologen in Deutschland. Der Göttinger Pro­fessor hat es sich zur Aufgabe gemacht, die neuesten Erkenntnis­se aus der Hirnforschung zu nutzen, um an Schulen eine günstigere Lern- und Beziehungskultur zu schaffen. Mit einer Roadshow, die an zehn Tagen in zehn Städten Station machte, zeigte der Mitgründer der Initiative "Schule im Aufbruch", wie es gelingen kann, Schulen zum Beispiel durch selbstverantwortliches Lernen und individuelle Betreuung zu verändern und dabei im Rahmen der vorgegebenen Richtlinien zu bleiben.

Ich bin kein Bildungs- oder Schulrevolutionär. Es geht mir auch nicht darum, den Unterricht oder die Lehrer zu kritisieren. Was mir am Herzen liegt, ist die Veränderung der Lern- und Beziehungskultur in Schulen.

In der Hirnforschung haben wir in den letzten Jahren Erkenntnisse zu Tage gefördert, die ein neues Licht auf Bildungsprozesse werfen. Eine dieser großartigen Erkenntnisse ist die Tatsache, dass im kindlichen Gehirn viel mehr an Vernetzungspotenzial bereitgestellt wird als jemals genutzt werden kann. Mit Vernetzungspotenzial meine ich Kontakte zwischen den Nervenzellen. Sie werden - wenn sie nicht gebraucht werden, wieder abgebaut. Es wäre ein erstrebenswertes Ziel von Bildung, dass im kindlichen Hirn möglichst viel von diesem Vernetzungsangebot stabilisiert werden kann. Das geht aber nicht mit Druck. Diese Komplexität entsteht nur, wenn Kinder sich Wissen selbst erschließen können.

Es gibt zwei Annahmen, die in der Gesellschaft zwar weit verbreitet, aber aus neurobiologischer Sicht nicht haltbar sind. Die erste Annahme heißt: Kinder können alles lernen. Dagegen sagt die Neurobiologie: Nein, Kinder können nicht alles lernen, sondern sie lernen nur das, was für sie bedeutsam ist. Wenn ich unter Druck Mathe lernen muss, dann ist das Mathelernen nur ein Nebeneffekt, denn vor allem lerne ich, wie ich den Druck loswerde. Gute Lernerfahrungen dagegen gelingen, wenn Kinder sich in Beziehung zum Gegenstand ihres Lernens setzen können - wenn es ihnen also wichtig ist, das zu lernen. Und wichtig ist etwas immer dann, wenn es einem unter die Haut geht, wenn es begeistert. Dann lernen Kinder alles, und dann lernen sie sogar mit Hingabe.

Die zweite Annahme: Kinder können immer lernen. Auch das stimmt so nicht. Wenn es einem nicht gut geht, lernt man nur, um aus diesem schlechten Zustand herauszukommen. Kinder sind nur dann offen für alles, was es zu lernen gibt, wenn es ihnen gut geht. Unter Leistungsdruck geht es ihnen nicht gut, unter Konkurrenzdruck auch nicht und vor allem nicht, wenn sie als Objekte behandelt werden. Wenn sie Gegenstand von Maßnahmen sind, also von Belehrung, von Bewertung und Beurteilung. Das verletzt ihr Grundbedürfnis, als autonome Wesen wahrgenommen zu werden.

Und noch einen Gesichtspunkt gibt es, der aus der Neurobiologie kommt und für das schulische Lernen wichtig ist: Jedes Kind ist hochbegabt. Neurobiologisch gesehen kommt jedes Kind auf die Welt als ein einzigartiges Wesen mit einem ganz besonderen Gehirn. Weil sich diese Vernetzungen im Hirn bereits vorgeburtlich anhand der aus dem eigenen Körper kommenden Signalmuster herausgeformt haben, besitzt jedes Kind ein Hirn, das optimal konstruiert ist für den Körper, in dem es zu Hause ist. Und da jedes Kind einen anderen Körper hat, hat auch jedes Kind ein auf besondere Weise optimiertes Gehirn.

Dieser Tatsache wird am Schulsystem, das wie eine Erbsensortieranlage funktioniert, nicht gerecht. Zu viele fallen unten durch und zu viele Lernen nur,  diese Selektionskriterien zu durchschauen und sich durchzusetzen. Oder denken Sie nur an die jüngsten Berichte darüber, dass die Diagnosen von ADHS am Ende der Grundschule ins Uferlose steigen: Das ist kein Problem im Hirn der Schüler, sondern die Reaktion von Eltern, Lehrern und Ärzten auf die Zustände in den Schulen.

Deshalb versuche ich nun, diese neurobiologischen Erkenntnisse in die Schulen hineinzutragen und alle Beteiligten zu ermutigen, eine günstigere Lern- und Beziehungskultur zu entwickeln. Die Zeit ist überreif für einen Wandel. Und in manchen Schulen ist er ja auch schon im Gang, sonst bleiben unsere Schulen Dressur- und Selektionseinrichtungen. Einen Kulturwandel kann man aber nicht verordnen. Aber man kann dazu Mut machen. Mit ganz konkreten Beispielen.

Deshalb habe ich mich mit Schülern einer ganz besonderen Schule, der Ev. Gesamtschule Berlin Zentrum und ihrer Leiterin, Margret Rasfeld, auf den Weg gemacht, um für ein Umdenken an Schulen zu werben. Mit einer Roadshow. "Lernlust statt Schulfrust" hieß sie, sie ist gerade zu Ende gegangen und war ein großer Erfolg. Zehn Städte in zehn Tagen, meist rund tausend Zuschauer und stehende Ovationen. Offenbar gibt es einen Riesenbedarf an neuen Ideen für die Schule. Wir sind in die Stadthallen gegangen und haben den Leuten die Gelegenheit gegeben, Schüler zu erleben, die aus einer Schule kommen, in der alles anders ist. In der es selbstverantwortliches Lernen gibt, individuelle Betreuung, eine Kultur des Miteinanders und zwei völlig neue Schulfächer: "Verantwortung" und "Herausforderung". Und stets haben wir deutlich gemacht, dass man diesen Wandel nur schafft, wenn sich Schulleitung, Lehrer, Eltern und Schüler einig sind.

Das war unser Ziel: den Anstoß zum Aufbau lokaler Bündnisse zu geben. Es ist ein Versuch, einen Kulturwandel in unsere Schulen von "unten" in Gang zu setzen: weil Eltern und Lehrer andere Schulen wollten und die Schüler andere Schulen verdienen.

 

Der Autor ist Professor für Neurobiologe und Mitgründer der Initiative "Schule im Aufbruch". Mehr über die Aktion "Lernlust statt Schulfrust" unter www.schule-im-aufbruch.de


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