Vom Jufo zum obersten Bildungsforscher

Stiftung Jugend forscht e. V. | 2006

Andreas Schleicher – Sonderpreisträger Technik 1984

Andreas und Dierk Schleicher

Andreas Schleicher

Andreas Schleicher ist „Mr. PISA" – der Vater der weltweit größten Bildungsstudie. Seit über zehn Jahren verschreibt er sich der Bildungsforschung. Doch sein Forschertalent entdeckt er auf einem anderen Feld. 1984 nimmt Schleicher erfolgreich am Wettbewerb Jugend forscht teil. Im Fachgebiet Technik präsentiert er SASCHA IV – ein Verfahren zur computerisierten Spracherkennung. Mitstreiter ist sein Cousin Dierk. Die Beiden gewinnen damit den vom Bundesministerium für Post verliehenen nationalen Sonderpreis. Das System basiert auf den Erfahrungen, die die Schleichers beim Vorjahreswettbewerb mit einem Prototyp sammeln.

Doch bevor der 1964 in Hamburg geborene Andreas Schleicher zum aufstrebenden Jufo und anschließend zum prominenten Bildungsforscher avanciert, macht er Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem, die seine spätere Karriere beinahe noch vor deren Start verhindert hätten. Denn seine Leistungen auf der Grundschule sind derart unbefriedigend, dass man ihn als „ungeeignet" für die Versetzung aufs Gymnasium einschätzt. Damals droht ihm der Umstand zum Verhängnis zu werden, den der Hauptverantwortliche für die so genannte PISA-Studie heute kritisiert: Dass nämlich an Deutschlands Schulen das „Ein- und Aussortieren der Schüler" im Mittelpunkt steht. Mit der Unterstützung seines Vaters, eines Professors für Erziehungswissenschaften, schafft es der kleine Andreas aber doch noch auf die „höhere Lehranstalt". Die Lehrer drücken beide Augen zu und der Gymnasiast Schleicher dankt es ihnen. Er entdeckt nicht nur die Liebe zu den Naturwissenschaften, sondern auch die Lust am Lernen. Am Ende macht er sein Abitur sogar mit der Note 1,0.

Dierk Schleicher kennt diese Sorgen nicht. Er fühlt sich auf dem Hamburger Christianeum sehr wohl, ist ein guter Schüler und nimmt während der Schulzeit mehrmals bei Jugend forscht und an Mathematik Wettbewerben teil.

Nach der Schule beginnt Andreas Schleicher ein Physikstudium an der Universität Hamburg. Ihn interessieren exakte Methoden und scharf geschliffene Instrumente. Doch nebenher hört er auch Vorlesungen in Geisteswissenschaften. Er trifft den englischen Erziehungswissenschaftler T. Neville Postlethwaite, dessen Entwicklung pädagogischer Visionen aus nüchterner Empirie ihn begeistern. Der Professor lässt Schleicher nach bestandenem Physikdiplom 1988 an der ersten internationalen Lese-Rechtschreib-Studie mitarbeiten, und er vermittelt ihn für ein Zweitstudium nach Australien. An der Deakin Universität macht Schleicher einen Master of Science im Fach Mathematik. Die dort erworbenen Statistikkenntnisse dienen ihm bei seiner späteren Tätigkeit als wichtiges Handwerkszeug. „Man braucht Visionen, um Fragen zu stellen, und harte Empirie, um Antworten zu geben", so Schleicher. Postlethwaite sei ein Glücksfall für ihn gewesen, ergänzt er. Für seine Masterarbeit erhält er 1993 sogar den Bruce-Choppin-Preis für Mathematik.

Auch Dierk Schleicher begleitet die Mathematik weit über die Schule hinaus. Nach dem Vordiplom in Hamburg verschlägt es ihn, zunächst zufällig, wie er zugibt, an die renommierten Universitäten Princeton und Cornell in den USA. Zwar schließt Dierk Schleicher sein Physikstudium in Hamburg ab, seine Promotionsstudium in Mathematik führt ihn jedoch nach Cornell zurück. Die Habilitation folgt in München. Das Fernweh verbindet beide Cousins: Dierk Schleicher verbringt seine internationalen Jahre, wie er sie nennt, mit Forschungsaufenthalten und Vorträgen in Paris, Berkeley, Russland und Japan, um nur einige zu nennen.

Nach dem Studium verschreibt sich Andreas Schleicher endgültig der Bildungsforschung. Zunächst arbeitet er unter anderem an der PISA-Vorläuferstudie TIMS mit, die Schülerkenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften untersucht. 1994 erhält er dann den Ruf ins Hauptquartier der Organisation für Internationale Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) nach Paris. Andreas Schleicher wird Projektleiter am Zentrum für Bildungsforschung und -entwicklung. Und schon kurze Zeit später erfolgt der Ritterschlag. Der OECD-Direktor erteilt ihm den Auftrag, die bis dahin weltweit größte Bildungsstudie zu konzipieren. Heraus kommt PISA: das „Programme for International Student Assessment". Dabei handelt es sich um ein Bewertungssystem, über das die Mitgliedstaaten der OECD im Dreijahresrhythmus Wissen und Fähigkeiten von Schülern in Kernfächern wie Mathematik und der jeweiligen Muttersprache bewerten und vergleichen können. In Deutschland verursachen die Ergebnisse der Untersuchung, die dem deutschen Bildungssystem überwiegend schlechte Noten ausstellen, im Jahr 2001 nicht nur bei Bildungspolitikern den so genannten PISA-Schock.

1997 wird Schleicher stellvertretender Leiter der Abteilung für Bildungsstatistiken und -indikatoren bei der OECD. Neben der PISA-Studie gehören zu seinen Hauptaufgaben die Koordination des OECD-Bildungsindikatorenprogramms (INES) einschließlich der Studie „Bildung auf einen Blick". Im Rahmen von INES werden international vergleichbare Bewertungskriterien entwickelt und analysiert, die Auskunft über die Stärken und Schwächen von Bildungssystemen geben. 2002 schließlich übernimmt er die Leitung der OECD-Abteilung.

Bildungskongresse, Podiumsdiskussionen oder TV-Auftritte: Seit PISA ist Andreas Schleicher nicht nur in Deutschland ein gefragter Mann. Die "Süddeutsche Zeitung" nennt ihn einen "Weltbürger und Weltreisenden in Sachen Bildungsforschung". Mit der OECD-Studie "Bildung auf einen Blick" erweist er sich auch 2004 erneut als massiver Kritiker des deutschen Bildungssystems. Schleicher moniert, es mangele an "Visionen von einer neuen Schule". Die eingeleiteten Veränderungen seien "zu kleinschrittig und zu langsam". Er fordert vor allem "ein flexibleres System, das es Schülern aller Altersstufen ermöglicht, zwischen den Schultypen zu wechseln". Und der Forscher Schleicher kritisiert, was schon dem Schüler Schleicher zu schaffen macht: Noch immer gebe es in Deutschlands Schulen zu viel Langeweile im Unterricht.

Den Schulunterricht verändert auch Dierk Schleicher nicht. Er ist jedoch ganz wesentlich daran beteiligt, einige von seinem Cousin geforderte Veränderungen im Hochschulwesen umzusetzen. An der jungen International University Bremen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die besten Aspekte internationaler Studiensysteme auf einem Campus zusammenzuführen, ist er für den Aufbau des Mathematiklehrstuhls verantwortlich. Kein leichte Aufgabe und mit vielen Anstrengungen verbunden. Doch Dierk Schleicher genießt das internationale Flair der Universität und das Gefühl, in Sachen „Bildung“ etwas zu bewegen. Genau wie sein berühmter Cousin.


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